Persönlich: Ratten als Helden

Persönlich von Pfarrer Jens Naske

Ratten sind in unserer Kultur ein Ursymbol für Ängste und Ekel. Sie sind überall gegenwärtig, aber nur selten sichtbar und kaum zu greifen. In der christlichen Tradition stehen sie gar mit dem Teufel selbst in Verbindung. In mittelalterlichen Dämonendarstellungen kriechen Ratten aus dem Maul der Hölle. Und im Märchen vom «Rattenfänger von Hameln» haben wir noch einen Niederschlag der Gefahren, die in vorangehenden Jahrhunderten von den gehassten Nagetieren ausging: Sie bringen Not und Krankheiten. Ihr lautloses Eindringen in menschliche Behausungen und ihr unkontrollierbares Vermehren lassen sie unheimlich erscheinen.

Die belgische Hilfsorganisation APOPO hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten dafür gesorgt, dass der Ratte Gerechtigkeit widerfährt und sie in einem positiveren Licht erscheint. APOPO richtet Ratten für die Suche nach Landminen ab. Gegenüber Metalldetektoren haben Ratten in der Minensuche eine 50-mal höhere Treffsicherheit. Gegenüber einem Spürhund haben sie den Vorteil, dass sie schneller lernen und durch ihr geringes Körpergewicht kaum Minen auslösen. Eine einzelne Ratte kann in etwa 30 Minuten die Fläche eines Tennisplatzes absuchen – eine Aufgabe, für die ein Mensch mit Metalldetektor bis zu vier Tage brauchen würde. Seit dem Beginn ihrer Einsätze haben die sogenannten «HeroRats» weltweit insgesamt über 155 000 Landminen in Mosambik, Kambodscha, Angola, Aserbaidschan und Südsudan gefunden. Die speziell ausgebildeten Ratten haben dabei das Leben von über 1,8 Millionen Menschen vor Verletzungen oder Tod bewahrt.

Minen führten in den letzten 30 Jahren zum Tod von über einer Million Menschen. Davon waren 80 % Zivilisten und 25 % Kinder. Seit 1999 haben 164 Länder das Ottawa-Abkommen ratifiziert, das den Einsatz von Landminen ächtet. Der berühmte «Broken Chair» des Schweizer Künstlers Daniel Berset gegenüber dem Palais des Nations in Genf gibt dem Ausdruck.

In diesem Sommer haben fünf EU-Länder wegen der Bedrohung durch Russland ihren Austritt aus dem Abkommen bekanntgegeben. Man wird ihnen kaum vorwerfen können, dass sie sich schützen. Dennoch ist es ein Zeitzeichen für eine Welt, in der die Menschlichkeit an vielen Orten zu unterliegen droht. Es scheint, als seien Ratten mitunter die besseren Menschen.

Dieser Beitrag wurde fürs reformiert.lokal, Ausgabe Oktober. Sie finden die Ausgabe hier.