Sonntag, 5. April – Jens Naske
Wertvolle Erinnerungen
Heute ist Palmsonntag. Für mich sind die Gottesdienste an diesem Sonntag immer besonders schön gewesen.
- Palmsonntag ist der alte Konfirmationstermin. Am Palmsonntag wurden früher die jungen Leute konfirmiert und gingen am Karfreitag dann zum ersten Mal zum Abendmahl. In der Zürcher Lutherkirche, in der ich 6 Jahre Pfarrer war, hatte sich der alte Konfirmationstermin noch erhalten. So fallen mir heute noch die festlich gekleideten Jugendlichen und ihre Familien ein, mit denen ich diesen Tag feiern durfte.
- Als ich noch Pfarrer in Hamburg war, haben wir immer einen grossen Palmzweig in den Chorraum der Kirche gehängt. Er war über drei Meter lang und stammte von der grössten Palme Hamburgs, die sich im Gewächshaus der Universität befand. Für unsere Kirche haben sie immer einen besonders schönen Zweig abgeschnitten, den ich dann auf dem Dach meines Autos transportiert habe. Das hat regelmässig für Aufsehen auf der Strasse gesorgt, denn die Palmblätter hingen bis über die Türscheiben und hüllten das Auto ein. Die Mühe lohnte sich, denn der Palmzweig schmückte die Kirche ähnlich festlich wie der Tannenbaum es zur Weihnacht tut.
- Weil Palmsonntag die Geschichte erzählt wird, in der Jesus auf einem Esel in Jerusalem einzieht, haben wir vor einigen Jahren anlässlich eines Familiengottesdienstes die Bäuerin vom Hof Sonneberg eingeladen, mit ihrem Esel in die Oberengstringer Kirche zu kommen. Begleitet von den Untikindern der zweiten Klassen ist der Esel zu Beginn in die Kirche eingezogen und ist den ganzen Gottesdienst bei den Kindern geblieben. Nicht nur mich hat dieses Bild sehr gerührt. Der Esel ist dabei ganz brav gewesen. Nur zum Schluss hat er uns etwas hinterlassen, was freundlicherweise der Sigrist, der sich auch am Esel freute, ohne Aufsehen beseitigte.
Heute kann ich keinen Gottesdienst in einer Kirche feiern. Heute feiere ich Gottesdienst, indem ich an die vielen festlich, fröhlichen, bewegenden Gottesdienste zurückdenke, die ich als Pfarrer schon feiern durfte. Wenn ich ihnen nachhänge, werden sie wieder lebendig. Und ich erlebe, wie wertvoll die Erinnerungen sind.
Samstag, 4. April – Yvonne Meitner
Bringt mich die Corona-Krise näher zu Gott?
Da ich infolge der Corona-Krise über mehr Freizeit verfüge resp. sich diese vor allem in den eigenen vier Wänden abspielt, habe ich mir vorgenommen, mehr Zeit meiner persönlichen Spiritualität zu widmen und in ihr auch Neues auszuprobieren und einzuüben.
Was ich schon lange üben wollte, aber mir im normalen Alltag dafür die Zeit und wohl vor allem auch die dafür nötige Geduld und Disziplin gefehlt haben, ist das Herzensgebet. Was ist das Herzensgebet? Aus Platzgründen verzichte ich auf eine breitere Definition, sondern beschreibe nur, wie ich es kennengelernt habe und nun praktiziere:
Das Herzensgebet ist ein stilles Gebet, das mit dem Atem kombiniert ist. Beim Einatmen bete ich ein Wort, beim Ausatmen ein anderes oder dasselbe.
Traditionell werden Worte, die im Zusammenhang mit Jesus stehen, gebetet: D.h. beim Einatmen Jesus, beim Ausatmen Christus oder beim Einatmen Kyrie (griechisch: was Gott oder Herr bedeutet) und beim Ausatmen eleison (ebenfalls griechisch, deutsch: erbarme dich). An einem Kursabend zum Herzensgebet ist uns von einer erfahrenen Beterin auch gesagt worden, dass wir das Wort bzw. die beiden Wörter, die wir beten wollen, frei wählen können. D.h. dass sie zu uns und unserer persönlichen Spiritualität passen sollen (die Kursgruppe war religiös gemischt), sonst würden wir sowieso nicht bei diesem Gebet bleiben, wobei sie sehr wahrscheinlich recht hat. Denn das Herzensgebet zu praktizieren bedeutet an sich schon eine Herausforderung, da es monoton, repetitiv, ja für moderne Menschen eher ungewohnt ist. Manche Menschen können sich intensiv einer einzelnen Yogaübung widmen, bis diese korrekt eingeübt und automatisch praktiziert werden kann. Warum sollte es also nicht möglich sein, bei einer grossen Portion guten Willens, Ausdauer und Geduld, sich nicht auch dem Herzensgebet zu widmen?
Wichtig ist aber nebst der Verbindung mit dem Atem auch eine bequeme Sitzstellung. Es braucht dafür kein Yoga- oder Meditationskissen, auch auf einem Stuhl mit Lehne kann man sich hinsetzen, dabei müssen einfach beide Füsse (Beine nicht überkreuzt!) festen Bodenkontakt haben. Zu beachten ist, dass ich in meiner Sitzposition mind. eine Viertelstunde ohne Beschwerden bin, damit ich mich aufs Gebet konzentrieren kann.
Ich möchte die jetzige Ausnahmesituation nutzen, um vertrauter mit dem Herzensgebet zu werden. Dass es mir eines Tages zu einer lieben Gewohnheit wird.
Vielleicht haben Sie nun Lust, das Herzensgebet auszuprobieren?
Ich wünsche Ihnen die nötige Portion guten Willens, Geduld und Ausdauer dazu.
Freitag, 3. April – Anne-Marie Müller
Eigentlich eine nette Begegnung
Eigentlich eine nette Begegnung an einem nichtssagenden Anlass. Ein interessantes und interessiertes Gespräch über allerlei. Bis er merkte, dass ich Pfarrerin bin. Da kam mir nicht Reserviertheit oder angestrengte Höflichkeit entgegen (das bin ich gewohnt), sondern ein Rundumschlag:
„Der Zustand der Welt ist ja schlimm (er sagte nicht, was er genau damit meinte). Wenn ich an die Rolle der Kirche(n) bei diesem Trauerspiel denke, dann müßte dieser Verein sofort aufgelöst werden, weltweit getilgt, verboten. Hat den Menschen nur Schaden, Elend und Unterdrückung beschert. Kritiker wurden mundtot gemacht, verbrannt, im Namen eines kranken Hirngespinstes, Christen nennen diesen Humbug «Gott»“.
Ja, viel Schreckliches ist Menschen geschehen, auch im Namen Gottes. Meine Wahrnehmung ist, dass Menschen schlicht beide Möglichkeiten haben: wunderbare Fähigkeiten, Zuwendung, Liebe, Fürsorge – und die andere Seite: Grausamkeit, Unterdrückungswille, Gier. Innerhalb und ausserhalb der Kirchen, weil Menschen zwiespältig sind. Das wollte er aber nicht hören.
Unsere Diskussion entgleiste darauf ganz. Es ging darum, dass doch vor allem Männer all diese Schandtaten vollbrachten (in meinem Hinweis, dass Grausamkeit nicht einfach Thema der Kirche, sondern genauso gut ein Männerthema oder ein Menschheitsthema sei), und darum, dass „wir“ (die Kirchenleute) Menschen mit Freundlichkeit ja nur manipulieren wollen und „auf die Seite der Kirche ziehen“. Unser Kontakt fand damit sein Ende.
Ich habe das so schon lange nicht mehr erlebt. Dass Menschen die Kirche kritisch sehen, ist normal – ich selbst versuche immer wieder, kritisch hinzusehen. Aber uns als Verschwörung zu sehen, auch heute, die die Menschen manipuliert – das ist unglaublich für mich.
Ich bin stolz darauf, dass unsere Kirche demokratisch geordnet ist und ermutigt zum Selber-Denken. Dass auf unseren Fahnen doch eher Nächstenliebe und Selbstliebe steht, auch wenn wir das nur immer wieder in Ansätzen verwirklichen können.
Ganz abgesehen von der Wirklichkeit, dass Gott uns ein Gegenüber ist in Kirchen und ausserhalb, als Herausforderung und Trost, als Spiegel und Verheissung, dass es noch ganz anders sein kann.
Donnerstag, 2. April – Nathalie Dürmüller
Mein grösster Wunsch
Mein grösster Wunsch ist es, dass wir wieder den normalen Alltag zurück hätten. Keine ausserordentliche Lage mehr, kein Social Distancing, keine geschlossenen Schulen, keine Sonntage ohne Gottesdienst, kein Homeoffice mehr, keine Isolationen und auch kein Notstand in den Spitälern. Stattdessen: Ganz normaler Alltag mit seinen Aufs und Abs, mit allem Gefreutem und all dem, was mir manchmal auch zu schaffen macht. Genau das wünsche ich mir und vor allem uns als Gesellschaft. Etwas abschätzig sprechen wir manchmal von «Alltagstrott», was so viel heisst wie: Immer dasselbe, nichts Neues, wir trotten so vor uns hin. Ja genau – einen solchen Alltagstrott hätte ich gerne wieder! Wo klar ist, wie man sich richtig zu verhalten hat, wie die nächste Woche in etwa aussehen wird und wo wir einander regelmässig sehen und umarmen und miteinander das «hundsgewöhnliche» Leben teilen.
Ich glaube, wir Menschen sehnen uns immer dann nach dem Aussergewöhnlichen, nach dem Speziellen, nach der besonderen Erfahrung, wenn unser Leben so ganz normal vor sich hinfliesst. Dann wollen wir einen aussergewöhnlichen Geburtstag feiern, oder die ultimative Reise unternehmen. Dann wollen wir durch besondere Leistungen hervorstechen oder uns von unseren Nachbarn abheben. Aber wenn uns das Leben hart erwischt – und dieses Mal geht es uns als Kollektiv so – dann sehnen wir uns nach dem ganz normalen Alltag. Ich weiss, es ist ein Klischee, aber erst dann merken wir, dass das Leben an sich das Geschenk ist. Gott hat uns Lebenszeit geschenkt. Sie ist beschränkt. Niemand von uns weiss, wie lange der Vorrat an Leben für jeden einzelnen von uns noch reicht. Dass wir leben dürfen ist das ganz Besondere! Dazu braucht es kein Bungeejumping und auch keine exklusive Kreuzfahrt in der Karibik. Wenn dann irgendwann der normale Alltag wieder zurück ist, möchte ich ihn begrüssen wie einen alten, lang vermissten Freund. Ich werde ihm einen Ehrenplatz an meinem Tisch geben, damit ich nie vergesse: Ich brauche nicht das Aussergewöhnliche, das Leben an sich ist schon wertvoll genug.
Mittwoch, 1. April – Martin Günthardt
„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.“
Die Worte von Reinhard Mey gehen mir diese Tage öfters durch den Kopf. Im Lied von 1974 besingt der deutsche Liedermacher, selber im Besitz einer Fluglizenz, den Start eines Flugzeuges, das durch die Wolken in den Himmel entschwindet. Fliegen als ultimativer Ausdruck der persönlichen Freiheit, aber auch des technischen Fortschritts der Menschheit.
Wir haben das Lied immer noch im Liederbüechli fürs Konflager, weil es eingängig und gut singbar ist. Obwohl ich mich schon im letzten Herbst gefragt habe, ob es für die Generation Klimajugend und angesichts der aufkommenden Flugscham noch passend ist.
Und nun blicke ich seit knapp zwei Wochen in die Wolken. Im Zürcher Himmel sind weder Flugzeuge noch Kondensstreifen zu sehen. Es gibt keinen Fluglärm mehr über dem Hönggerberg. Viele Fluggesellschaften haben ihre Flotten ganz gegroundet und auch die SWISS ist nur noch mit sechs Maschinen unterwegs.
Innerhalb kürzester Zeit hat das Corona-Virus erreicht, was sich die grössten Umweltaktivisten kaum erhofft haben. Ich gestehe, das macht mir ein mulmiges Gefühl. Ja, das sinnlose Wochenende- und Partyfliegen abstellen, dafür bin ich auch. Aber so plötzlich einfach keine Flugverbindungen mehr nach Brasilien, zur Familie meiner Frau, das ist schon drastisch.
Ich frage mich: Was passiert wenn die Einschränkungen aufgehoben werden? Verändert sich dann unser Reiseverhalten oder gibt es einen explodierenden Nachholbedarf? Gestern habe ich ein Werbemail von „Easy-Jet“ bekommen, das ich zuerst für einen verfrühten Aprilscherz hielt: „Du wirst wieder entspannt reisen können, warum also heute nicht schon an morgen denken?“ So die verführerische Frage. Die Offerte: Für kurze Zeit sind alle Europadestinationen ab Ende Oktober 20 bis Februar 21 für den Einheitspreis von 34.- CHF buchbar. Ist das die pure Verzweiflung der Airline-Branche oder raffiniertes Marketing?
Klar scheint mir: die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise sind kaum abschätzbar. Auch in der reichen Schweiz fallen jetzt viele durch die Maschen des staatlichen Auffangnetzes, das der Bundesrat mit den Kantonen gespannt hat. Aber was bedeutet diese Krise für die sozial Schwachen in den armen Ländern dieser Welt?
Meine Hoffnung ist, dass wir als Gesellschaft etwas von der Solidarität und Kreativität mitnehmen, die wir jetzt im Alltag erleben. Und dass wir das geflügelte Wort endlich ganz ernst nehmen: „Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen, und nicht umgekehrt.“
Dienstag, 31. März – Anne-Marie Müller
März
Da muss ich doch gleich mit einem Gedicht antworten auf das von Mascha Kaléko, das Jens Naske uns gestern geschenkt hat, ein Gedicht, das mit Krankheit nichts am Hut hat. Am letzten März-Tag (an dem ja vielleicht wieder die Sonne scheint?).
März
Die Spechte hämmern
als klopften sie an Frühlings Tür
die Spatzen, Meisen, Finken
üben ihren Ruf
und auch die Amsel schlägt
ab und zu zur ProbeWinter ist gemeldet
und ich trag’ noch Stiefel
heimlich aber tanzen meine Zehen
und meine Nase
versucht vergnügt
die ersten SommersprossenBald!
Montag, 30. März – Jens Naske
… wieder angefangen Gedichte zu lesen
Ich kann mich nicht erinnern, einmal so viele freie Abende gehabt zu haben: keine Sitzungen, keine Chorproben, keine Abendveranstaltungen; aber auch keine Restaurantbesuche, kein Kino, kein Konzert. Und nun? Am Abend mag ich keine Berichte mehr über Corona im Fernsehen sehen. Ich informiere mich tagsüber. Am Abend möchte ich für zwei oder drei Stunden eine Auszeit von der Krise. Ich habe viel Musik gehört an den letzten Abenden. Ich habe mir alte Filme auf DVD angeschaut. Und ich habe wieder angefangen Gedichte zu lesen. Das habe ich seit meiner Studentenzeit nicht mehr gemacht! Auf einem Bücherflohmarkt hatte ich vor einiger Zeit einen Gedichtband von Mascha Kaléko erworben. Er lag seitdem auf meinem Nachttisch. Gestern Abend habe ich folgendes Gedicht gelesen:
Es regnet
Es regnet Blümchen auf die Felder,
Es regnet Frösche in den Bach.
Es regnet Pilze in die Wälder,
Es regnet alle Beeren wach!Der Regen singt vor deiner Türe,
Komm an das Fenster rasch und sieh:
Der Himmel schüttet Perlenschnüre
Aus seinem wolkigen Etui.Vom Regen duften selbst die Föhren
Nach Flieder und nach Ananas.
Und wer fein zuhört, kann das Gras
Im Garten leise wachsen hören.
Ein verrücktes Gedicht in einer ver-rückten Zeit.
Passt es nicht gut zum heutigen Regentag?